Wenn Angst eine Umarmung braucht

03.10.2025

Vor kurzem war ich für eine ambulante Vorsorgeuntersuchung in einem Krankenhaus. Es gab also keinen akuten Verdacht, aber dennoch war es für mich natürlich keine alltägliche, geschweige denn angenehme Situation. Vor allem weil das Ganze mit dem üblichen Warten, Warten, Warten verbunden war, bis ich an der Reihe war.

´Der andere Mann im Wartezimmer hatte wie ich bereits eine Kanüle in der Armbeuge gelegt bekommen, was ihn aber nicht daran hinderte, pausenlos auf seinem Handy zu tippen. Meine Nadel schmerzte, wenn ich den Arm beugte, aber mir war ohnehin mehr nach Bewegung zumute, sodass ich nach einiger Zeit aufstand und in Richtung Toilette ging. Auf dem kühlen, mit Neonlicht beleuchteten Flur herrschte reges Treiben, Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegepersonal huschten mal in diesen, mal in jenen Untersuchungsraum.

Gegenüber der Toilettentür stand ein Krankenhausbett, in dem eine Frau Mitte 60 lag, und der ich kurz lächelnd zunickte, als ich merkte, dass die Tür abgeschlossen war. Die Bettdecke über ihren Beinen war mit Gurten fixiert, was mich irgendwie irritierte, während ihr Oberkörper nur in einem dünnen, kurzarmigen Patientenhemd steckte. Sie war wach und schaute mal an die Decke, mal so, als würde sie nach jemanden vom Pflegepersonal Ausschau halten. Wieder drückte ich die Klinke zum WC, doch nichts schien sich dahinter zu rühren. Mir war es etwas unangenehm, quasi direkt neben dem Bett warten zu müssen, weil ich die Frau nicht in Verlegenheit bringen wollte.

Um die Situation aufzulockern, fragte ich sie nach zwei, drei Minuten einfach: "Bisschen kalt, oder? Soll ich Ihnen eine Decke organisieren?" Da drehte sie ihren Kopf zu mir und lächelte müde. Sie schluckte, dann fing sie an zu reden, lauter als ich erwartet hatte. "Ach nö, das ist nicht schlimm. Aber irgendwas is ja da unten, ich versteh' das nicht. 68 Jahre war doch alles in Ordnung. Jetzt haben sie vor Kurzem was gefunden, was sie dann rausgemacht haben, und jetzt bin ich schon wieder da, weil vielleicht wieder was drin ist … aber nee, ich glaub' da nicht dran, nee, nee, da ist bestimmt alles in Ordnung jetzt. Muss ja, Himmel, Herrgott ... Aber wo sind die denn jetzt alle? Kommt noch jemand oder kann ich gehen?" Sie sprach noch eine Weile weiter, mehr zu sich selbst, als zu mir, und ich hörte einfach zu, nickte und spürte, wie viel auf ihr lastete und genau jetzt in diesem Moment raus musste. Vor mir, einem Fremden. Instinktiv wollte ich näher an sie herantreten und ihre Hand nehmen oder den Arm streicheln, doch die sozialen Normen hemmten mich leider. Natürlich fühlte ich mit ihr, auch weil sie so alleine in dem kalten Flur lag und niemand bei ihr war. Im gleichen Moment erinnerte ich mich an eine kürzliche Situation beim Zahnarzt, in der die MFA einem Kind ganz selbstverständlich den Arm hielt und sanft streichelte. Wie schön, dachte ich, wie wichtig und natürlich – und wie "unnatürlich" unter Erwachsenen.

4 Umarmungen pro Tag zum Überleben

Laut der Psychotherapeutin Virginia Satir brauchen wir "4 Umarmungen pro Tag zum Überleben, 8 Umarmungen pro Tag, um uns gut zu fühlen, und 12 Umarmungen pro Tag zum innerlichen Wachsen." Eine Umarmung von 20 Sekunden reicht aus, um eine Welle von Endorphinen auszulösen. Innerhalb kürzester Zeit verlangsamen sich Atmung und Herzschlag; die Glückshormone wirken wie natürliche Stresskiller. Aber auch eine durchschnittliche Umarmung von 3 Sekunden ist besser als nichts. Natürlich ist die Zustimmung des Gegenübers entscheidend, aber vor allem in helfenden Berufen vermitteln bewusste Berührungen Sicherheit und Geborgenheit.

Aber zurück zur Situation: Die Frau vor mir fühlte sich offensichtlich alleingelassen und hinter ihrer scheinbaren Verblüfftheit und Verleugnung verbarg sich ein typischer psychischer Schutzmechanismus: Ihr Gehirn schützte sich vor einer überwältigenden Realität. Darunter wiederum lag letztlich die große Angst vor dem Tod.

Unsterblich? Unmöglich!

Dieses absolut verständliche menschliche Verhalten spiegelt einen universellen Mechanismus wider: Ähnlich wie Werbung ein unerreichbares Ideal schafft, setzt auch die Angst vor dem Tod eine unsichtbare Dynamik in Gang. Ein Credo der Werbung ist: Um immer weiter verkaufen zu können, muss das Ideal (wie etwa Schönheit oder Erfolg) stets unerreichbar bleiben. Übertragen wir dieses Prinzip auf Angst und Tod, zeigt sich Ähnliches: Der Tod ist unvermeidbar und lässt sich nicht kontrollieren, d.h. das ultimative "unerreichbare Ideal" ist die Unsterblichkeit. Gerade diese Unerreichbarkeit treibt unsere Angst an. So wie Werbung ein unerreichbares Ideal schafft, motiviert uns die Unmöglichkeit, dem Tod zu entkommen, ständig nach Sicherheit, Kontrolle und Ablenkung zu streben – als Mittel, die Angst vor der Endlichkeit in den Hintergrund zu rücken. Oder anders ausgedrückt: Damit der Tod weiter Angst machen kann, muss Unsterblichkeit unerreichbar bleiben.

Die Frau im Krankenhausbett ist also ein gutes Beispiel dafür, wie große Angst uns begegnen kann, nämlich als "normale" Reaktion auf das Wissen um ihre Endlichkeit. Was wir aber in dem Zusammenhang lernen müssen, ist, die Angst nicht nur auszuhalten, sondern sie als einen natürlichen Teil unseres Lebens zu verstehen, so wie der Tod selbst etwas Natürliches ist, das nicht zwingend nur bedrohlich sein muss. Wie Schmerz sollte Angst daher nicht ignoriert, sondern aktiv angegangen werden. Das kann meist nicht direkt in solchen Momenten wie hier im Krankenhausflur geschehen, sondern Stück für Stück über Gespräche/Therapie und Selbstreflexion.

Der Vorteil: Angst und Endlichkeit anzunehmen bedeutet, bewusster zu leben. Friedlicher mit dem "Schicksal" und sich selbst. Und manchmal genügt auch schon ein kurzer Moment menschlicher Nähe, um diese Angst ein Stück weit erträglicher zu machen. 
Schon allein aus diesem Grund bin ich für Vollzeit-Umarmer*innen im Krankenhaus!